Skandinavien gilt als Vorreiter, wenn es darum geht, beiden Geschlechtern die gleichen Chancen und Rechte einzuräumen. Die Isländerin Margrét Pála Ólafsdóttir leitet mehr als ein Dutzend Kindergärten und Grundschulen, in denen Jungen und Mädchen gleichberechtigt sind und sich unabhängig von ihrem Geschlecht entwickeln können. 2011 wurde in Schweden unter der Leitung von Lotta Rajalin der erste geschlechtsneutrale Kindergarten unter dem Namen „Egalia“ eröffnet. Zwar brachte sie damit einen Stein für die Förderung einer geschlechtsneutralen Erziehung ins Rollen, doch auch Kritik und Hass ließen nicht lange auf sich warten.
Denn während sich die Befürworter der geschlechtsneutralen Erziehung gegen das sozial konstruierte Geschlecht und für die Gleichberechtigung und Individualität aussprechen, beanstanden Kritiker, dass damit Ungleichheiten und Probleme zwischen den Geschlechtern nicht verschwinden, sondern diese lediglich verschleiert würden. In der Tat lassen sich anhand diverser Studien biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern nachweisen. Allerdings geht es bei der geschlechtsneutralen Erziehung auch nicht darum, biologische Ungleichheiten vollkommen außer Acht zu lassen. Dennoch betonen Psychologen und Pädagogen, dass viele Unterschiede erst durch die Erziehung entstehen.
„Es ist ja nicht das biologische Geschlecht, das wir ändern wollen. Die Kinder haben ihre eigene Biologie und die gehört ihnen. Da mischen wir uns nicht ein. Uns geht es darum, dass sie Fertigkeiten, Wissen und Gefühle entwickeln – unabhängig von ihrem Geschlecht“, so Lotta Rajalin. (Quelle: Das Erste)
Was ist in Kindergärten und Schulen wie Egalia anders?
Statt Mädchen oder Junge werden hier alle nur Freunde genannt. Personalpronomen „sie“ und „er“ werden durch „es“ ersetzt. Spielzeug wie Puppen und Autos werden nicht getrennt aufbewahrt. Märchenbücher, in denen Frauen vom heldenhaften Prinzen gerettet werden, werden durch zeitgemäße Geschichten wie beispielsweise Adoption, Patchwork-Familien und gleichgeschlechtliche Eltern ersetzt. Das Kita-Personal ist eher männlich als weiblich. Bei Rollenspielen wie Mutter-Vater-Kind werden die Kinder dazu ermutigt, auch mal in andere Rollen zu schlüpfen und/oder ungewöhnliche Konstellationen einzunehmen. Alle Kinder werden darin bestärkt, sie selbst zu sein und Gefühle sowie Verhaltensweisen zuzulassen, die ihnen das klassische Rollenverständnis meist untersagt.
Fünf Tipps für eine geschlechtsneutrale Erziehung
Die folgenden Tipps dienen dazu, euer Kind frei von Geschlechter-Klischees zu erziehen. Sie sind kein Muss, sondern lediglich ein Anreiz, um eurem Nachwuchs Chancen und Rechte einzuräumen, die ihm zustehen und ihm dabei helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Wie ihr Kinder geschlechterneutral erzieht
- Hinterfragt euch regelmäßig Geprägt durch unsere eigene Kindheit sind uns Aussagen wie „du bist ein Junge, hör auf zu weinen“ oder „du bist doch ein liebes Mädchen, dann sei nicht so laut“ bekannt. Umso mehr sollten sie uns ein Dorn im Auge sein. Fragt euch auch, bei welchen Tätigkeiten euch eure Kinder unterstützen und wie diese Hilfe zustande kam. Euer Sohn werkelt gern in der Garage, ihr habt ihm aber noch nie die Chance gegeben, in der Küche zu helfen? Eure Tochter kann schon Knöpfe annähen, aber hat noch nie gesehen, wie ihr eine Schraube in die Wand bohrt? Dann gebt ihnen doch einfach ab jetzt die Möglichkeit dazu!
- Selbstbestimmung statt Formung Indem ihr euer Kind geschlechtsneutral erzieht, gebt ihr ihm die Möglichkeit, sich selbstbestimmt zu entwickeln. Festgefahrene Rollenbilder und Stereotype rücken in den Hintergrund. Bestärkt eure Töchter darin, auch mal anzuecken und sich zu behaupten und ermutigt eure Söhne darin, hilfsbereit und sanft zu sein. Mit rund fünf Jahren wird dem männlichen Geschlecht beispielsweise anerzogen, dass es wütend sein darf, aber Gefühle, die verletzlich und angreifbar wirken, als schwach und inakzeptabel gelten. Gebt eurem Sohn stattdessen die Chance, die Emotionen zuzulassen, die er gerade hat. Lasst ihn weinen, gestattet ihm, Angst zu haben und motiviert ihn darin, nach Hilfe zu fragen, wenn er diese benötigt.
- Seid Motivator und Vorbild Lauft mit euren Kindern durch die Spielwarenabteilung und ignoriert einfach mal die Jungs- und Mädchenecken. Motiviert eure Kinder, sich das gesamte Sortiment anzuschauen und – wenn möglich – damit zu spielen. Auch hier gilt es wieder, die eigene Erziehung infrage zu stellen und klassische Geschlechterrollen zu durchbrechen. Je häufiger ihr euch dabei selbst hinterfragt und einfach mal das komplette Gegenteil macht, desto intuitiver und leichter wird euch das Umdenken zukünftig fallen.
- Sprecht mit eurem Umfeld Was bringt euch eine geschlechtsneutrale Erziehung, wenn sich Erzieher, Lehrer und euer engster Familien- und Freundeskreis nicht daran halten? Macht euch bewusst, dass eure Erfolge nicht gleich hinfällig sind, wenn euer Kind mit anderen Erziehungsmethoden konfrontiert wird. Wichtig ist, dass ihr versucht, ihm mögliche Konflikte und Unterschiede zu erklären. Zudem könnt ihr versuchen, Großeltern und Erzieher ebenfalls dazu zu motivieren, das eigene Verhalten häufiger zu überdenken und den einen oder anderen geschlechtsneutralen Erziehungstipp anzuwenden.
- Bleibt standhaft! Der Punkt, an dem euer Sohn ausgelacht wird, weil er die Farbe Pink oder Glitzer mag, kann natürlich kommen. Und gewiss ist es schmerzhaft, wenn er deshalb von anderen ausgegrenzt wird. Nehmt ihm trotzdem nicht die Möglichkeit, diese Erfahrung zu sammeln und versucht ihm zu erklären, wieso wir uns in der modernen Welt von heute immer noch mit Stereotypen und Vorurteilen wie diesen herumschlagen müssen. Vieles geschieht aus Angst bzw. Unwissen über das vermeintlich Andersartige.
Es deshalb gar nicht erst zu versuchen, wird euer Kind allerdings auch nicht glücklich machen. Vielleicht möchte euer Sohn danach in der Schule lieber wieder „Jungskleidung“ tragen und auf Glitzer verzichten. Vielleicht mag er all das aber noch vor und nach der Schule und am Wochenende tragen. Und vielleicht findet er es trotz Kritik toll, statt Fußball lieber tanzen lernen zu wollen. All das sind riesige Fortschritte. Für euren Sohn, weil er spürt, dass er vor euch so sein darf, wie er ist, und weil er andere Personen eher akzeptieren wird, wie sie sind. Und für die gesamte Gesellschaft, weil sich dadurch hoffentlich das stereotype Denken in unser aller Köpfe aus dem Staub macht und wir der Gleichberechtigung Schritt für Schritt näher kommen.