Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kann erschüttert sein, wenn die Gesamtbetrachtung ernsthafte Zweifel an der Bescheinigung aufkommen lässt. Das Bundesarbeitsgericht stellte in einem aktuellen Urteil klar, dass bei einer AU-Bescheinigung aus dem Ausland dabei die gleichen Grundsätze gelten wie bei einem in Deutschland ausgestellten Attest.
Im verhandelten Fall hatte ein Arbeitnehmer am 7. September 2022 während seines Urlaubs in Tunesien seinen Arbeitgeber per E-Mail informierte, dass er bis zum 30. September 2022 krankgeschrieben sei. Beigefügt war ein Attest eines tunesischen Arztes. Darin wurde in französischer Sprache bescheinigt, dass der Mitarbeiter an „schweren Ischialbeschwerden” im engen Lendenwirbelsäulenkanal leide. Weiter bescheinigte der Arzt, dass der Arbeitnehmer 24 Tage strenge häusliche Ruhe bis zum 30. September 2022 benötige und er sich während dieser Zeit nicht bewegen oder reisen dürfe. Einen Tag nach dem Arztbesuch buchte der Arbeitnehmer ein Fährticket für den 29. September 2022 und reiste an diesem Tag mit seinem PKW zunächst mit der Fähre von Tunis nach Genua und dann weiter nach Deutschland zurück. In der Folge legte er seinem Arbeitgeber eine AU-Bescheinigung eines deutschen Arztes vom 4. Oktober 2022 vor, in der eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 8. Oktober 2022 bescheinigt wurde. Später reichte er noch eine erläuternde Bescheinigung des tunesischen Arztes vom 17. Oktober 2022 nach.
Der Arbeitgeber lehnte die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ab und kürzte den Lohn für September 2022 um rund 1.583 Euro netto. Der Arbeitnehmer klagte auf Lohnfortzahlung. Das Arbeitsgericht wies die Klage ab, das Landesarbeitsgericht (LAG) München gab dem Kläger Recht. Dagegen ging der Arbeitgeber vor dem BAG erfolgreich in Revision.
BAG und LAG waren sich darin einig, dass einer AU-Bescheinigung, die in einem Land außerhalb der EU ausgestellt wurde, grundsätzlich der gleiche Beweiswert wie einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung zukommt. Jedoch befand das BAG, dass das LAG die rechtlich gebotene Gesamtwürdigung unterlassen habe. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der tunesische Arzt dem Arbeitnehmer 24 Tage Arbeitsunfähigkeit bescheinigte, ohne eine Wiedervorstellung anzuordnen. Außerdem wies das BAG darauf hin, dass der Arbeitnehmer bereits einen Tag nach der attestierten Notwendigkeit häuslicher Ruhe und des bis zum 30. September 2022 ausgesprochenen Verbots, sich zu bewegen und zu reisen, ein Fährticket für den 29. September 2022 buchte und an diesem Tag die lange Autoreise nach Deutschland antrat. Zudem war der Mitarbeiter bereits in den Jahren 2017 bis 2020 dreimal unmittelbar nach seinem Urlaub krankgeschrieben. Diese Gegebenheiten könnten für sich betrachtet unverfänglich sein, in einer Gesamtschau jedoch ernsthafte Zweifel am Beweiswert der AU-Bescheinigung begründen, so das BAG. Nunmehr trage der Kläger die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch. Das BAG verwies den Fall zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurück.
BAG, Urteil vom 15.1.2025, 5 AZR 284/24